"... mit der zeitgenössischen Musik will die Gegenwart sich darstellen, erhellen und sich
ordnen, während sie zugleich das Vergangene bestätigt, verschönt oder beurteilt; sie weist
aber auch in die Zukunft, leitet sie ein und lässt sie zur Wirklichkeit werden. Dies ist die
Begründung dafür, warum man sich mit der zeitgenössischen Musik auseinandersetzen
muss, sie durchdringen (...), sie verstehen, kennenlernen, lieben, kämpfen muss, mit ihr,
für sie und durch sie."
Diese Passage aus einem Brief des Dirigenten, Komponisten und Musikpublizisten
Hermann Scherchen, den er 1940 an seine Frau Xiao Shusien geschrieben hat,
gehört zu den emphatischsten und wahrhaftigsten Äußerungen über die
gesellschaftliche Notwendigkeit neuer Musik. Bis heute hat Scherchens Befund
nichts an seiner Gültigkeit eingebüßt, und es steht sehr zu vermuten, dass er
auch für die kommenden Jahrzehnte aktuell bleiben wird. Die hingebungsvolle
wie kämpferische Aneignung des ästhetisch Neuen, sei es Musik, Bildende
Kunst oder Literatur, dürfte dabei der einzige Weg sein, ein sensuell sich
veränderndes Bewusstsein in einer Sozietät zu schaffen, die in den letzten
Jahren beharrlich regrediert und mehr Innovationen abschafft als neue zu
begründen.
Als sich im Dezember 1989 in Saarbrücken der Pfau-Verlag konstituierte, waren
sich dessen drei Initiatoren und ehemaligen Kommilitonen Roger Pfau -
Namensgeber des Unternehmens, der wenige Jahre später aus privaten
Gründen ausschied - sowie Sigrid Konrad und Stefan Fricke, die seither den
Verlag betreiben, über die Verantwortung samt der Konsequenzen eines
solchen Projekts noch nicht wirklich im Klaren. Es war - rückblickend - wohl vor
allem studentische Naivität und adoleszenter Tatendrang, eine Firma zu gründen,
deren Geschäftsidee das Publizieren von Musikbüchern und insbesondere solchen
zur zeitgenössischen Musik ist. Ob wir heute denselben Elan nochmal aufbringen
würden, ist nach über zehn Jahren verlegerischer Tätigkeit kaum positiv zu
beantworten: die wirtschaftliche Situation des Pfau-Verlags hat sich seit der
Firmengründung nicht wesentlich verbessert, auch wenn die backlist mittlerweile auf
um die 250 Titel angewachsen ist.
Nach wie vor kann die Arbeit im Verlag nicht entlohnt werden, wenn das Pfau-Projekt
weiter existieren will, wenn weiterhin Texte zur neuen Musik erscheinen sollen. So
gesehen wäre das gesamte Unterfangen eher als Hobby denn als ein
betriebswirtschaftlich in allen Details gut funktionierendes Geschäft zu bezeichnen.
Doch der Aufwand der Buchproduktion - vom Aufspüren, Lektorieren bis hin zum
Vertrieb - ist derart groß, zeit- und kostenintensiv, dass von einem der Entspannung
dienenden Tätigkeitsfeld nun wahrlich nicht die Rede sein kann. Der laufende Betrieb
verlangt größtmöglichen Einsatz: die Verpflichtung den Autoren und ihren Projekten
gegenüber wächst stetig, und von der regelmäßigen wie geregelten Tantieme-
Ausschüttung wird sich der Pfau-Verlag keinesfalls trennen. Leider aber ist das
Interesse an der neuen Musik, insbesondere das der sujetbezogenen Lektüre so
gering, dass sich der ökonomisch prekäre Status künftig wohl nur wenig ändern
dürfte.
Indes hat die Wichtigkeit, Musikbücher zu veröffentlichen, heute alles andere als
nachgelassen. Immer noch sind sehr viele Informationen, die für die eigene Arbeit
notwendig sind oder für die man sich aus welchen Gründen auch immer interessiert,
gar nicht oder nur schwerlich zu erhalten. Die Leerstellen der zeitgenössischen Musik,
obgleich wir uns inmitten ihrer Produktion befinden, sind größer als die schon
erschlossenen Terrains. Aber auch diese sind oft nur recht fragwürdig zivilisiert
worden. So war und ist es ein programmatisches Ziel des Pfau-Verlags, Neues und
Unbekanntes zu befördern, Entlegenes bereitzustellen und, wo möglich, notwendigen
historischen Korrektiva publizistische Chancen zu geben, um auch aus dem
musikologischen Eigenverständnis heraus rektifizierende Sichtweisen zu evozieren.
So entstand die Reihe "Quellentexte zur Musik des 20./21 Jahrhunderts", die
autopoetologische Äußerungen von Komponisten in jeweils ihnen gewidmeten
Bänden versammelt und mit einer auf nunmehr fünf Bände angewachsene Edition der
Musiktexte von Gottfried Michael Koenig eröffnet wurde, einen weitaus
differenzierteren Blick in die Anfänge des Serialismus und der Elektronischen Musik
als denjenigen, den die bisher verfügbaren Veröffentlichungen anderer Protagonisten
neuer Musik nahegelegt haben. Weitere erschienene "Quellentexte"-Bände und in
Arbeit befindliche Editionen beinhalten die Texte von Günther Becker, Konrad
Boehmer, Theo Brandmüller, Paul-Heinz Dittrich, Vinko Globokar, Hans G Helms,
Georg Heike, Hans-Joachim Hespos, Wolfgang Hufschmidt, Wolf Rosenberg, Louis
Saguer, Stefan Wolpe.
Eine zweite Publikationsreihe im Pfau-Verlag heißt "fragmen" und ist in ihrer seiner
Konzeption sehr offen. Gemeinsam ist den "fragmen"-Heften nur, dass es sich um
schmale Publikationen mit einem Umfang von zwanzig bis um die vierzig Seiten
handelt, eine Textmenge also, die für nahezu alle derzeitigen Zeitschriften neuer
Musik zu groß, für Bücher hingegen zu gering ist. Die inhaltliche "fragmen"-Idee
lautet: "Fragestellungen zur Gegenwartsmusik werden zunehmend global
betrachtet, unterschiedliche Kontexte mehr und mehr miteinander vernetzt. Es
entsteht Bedarf, Themenfelder gezielt, prägnant und entsprechend ihrer
ästhetischen Tragweite darzustellen. 'fragmen' - Forum für grundlegende Texte zur
neuen Musik - bietet gleichermaßen einen ersten Zugang sowie ergänzende
Aspekte zu KomponistInnen, einzelnen Werken, interdisziplinären Ansätzen und
wissenschaftlichen Forschungsmodellen."
Vierzig verschiedene "fragmen"-Hefte sind mittlerweile erschienen; sie behandeln
Kompositionen und Werkaspekte von beispielsweise Theodor W. Adorno, John
Cage, Carmen Maria Cârneci, Paul-Heinz Dittrich, Morton Feldman, Werner Heider,
Jörg Herchet, Hans-Joachim Hespos, Heinz Holliger, Nicolaus A. Huber, Sven-Åke
Johansson, Mauricio Kagel, Joonas Kokkonen, György Kurtág, Helmut
Lachenmann, Brundo Maderna, Olivier Messiaen, Federico Mompou, Olga
Neuwirth, Klaus Ospald, Hans Otte, Krzystof Penderecki, Wolfgang Rihm, Wolf
Rosenberg, Giacinto Scelsi, Dieter Schnebel, Ernstalbrecht Stiebler, Valentin
Sylvestrow, David Tudor, Edgard Varèse, Sandor Veress, Stefan Wolpe, Ivan
Wyschnegradsky, Jacques Wildberger, Iannis Xenakis.
Einige der "fragmen"-Autoren und auch von anderen Einzelpublikationen, und das
ist schon seit den Pfau-Anfängen eine zentrale Programmidee, sind selbst
Komponisten. Schließlich äußeren sie sich nicht nur in Musik, sondern aus den
verschiedensten Gründen auch oftmals sehr intensiv über Musik. Abgesehen von
den Autoren der "Quellentexte"-Reihe und den Gesprächspartnern der Interview-
"fragmen"-Hefte sind dies etwa Peter Ablinger, Martin Bergande, Volker
Blumenthaler, Giulio Castagnoli, Reinhard Febel, Ernst August Flammer, York
Höller, Adriana Hölszky, Wolfgang Motz, Harald Muenz, Kirsten Reese, Mauricio
Rosenmann, Hermann Spree, Christoph Staude, Jakob Ullmann, Walter
Zimmermann.
Außer der "fragmen"- und der "Quellentexte"-Reihe als den ursprünglichen
Konzeptsäulen des Pfau-Verlags besteht das Programm aus zahlreichen
Einzelstudien und Anthologien zu einzelnen KomponistInnen und allgemeineren
Darstellungen zeitgenössischer Musik. Ein Großteil dieser Publikationen ist aus
musikwissenschaftliche Dissertationen hervorgegangen, andere Veröffentlichungen
lagen zunächst als Magister- oder Examensarbeiten vor. Sie hatten sich dann für
die Inverlagnahme ihres akademischen Gesichts zu entledigen und wurden
lesbarer, ohne inhaltliche Konzessionen zu machen. Es stünde der universitären
Musikologie sicher nicht schlecht an, bei der Ausbildung der Studierenden mehr
Wert auf das Schreiben zu legen; auch die bessere Schulung in der Darstellung von
Quellen und die Handhabung von Fußnoten scheint notwendig zu sein.
Hier wird den Verlagen oft eine Recherchetätigkeit zugemutet, sofern die
szientifischen Apparaturen korrekt sein sollen, die eigentlich ins Aufgabengebiet der
akademischen Institute und ihres Personals gehört. Zu den sprachlichen und
formalen Mängeln der Typoskripte gesellen sich oftmals die trügerischen Fertilitäten
der Autoren in der Handhabung von Text-Software. Bisweilen scheint ein jeder
unbedingt alle digitalen Auszeichnungsmöglichkeiten einsetzen zu müssen, um dem
Gesagten mittels überflüssiger typografischer Spielchen Nachdruck zu verleihen.
Den stets eiligen technischen Ablauf im Verlagsalltag schadet das nur, schließlich
wollen die meisten Autoren ja ihr Buch so schnell wie möglich auf dem Ladentisch
haben.
Eine weitaus delikatere Belastung in der Musikbuchproduktion ist aber zunehmend
die Integration von Notenbeispielen geworden. Und dies nicht aus satztechnischen
Gründen, sondern weil ein Gros der Musikalienverlage mittlerweile horrende
finanzielle Forderungen für die Reproduktion von Partiturfragmenten stellt. Mitunter
macht das ein Fünftel der gesamten Herstellungskosten aus. Künftig wird sich also
der Anteil von rechtsgebundenen Notenbeispielen verringern müssen, um noch
annähernd adäquat produzieren zu können. Zwar erlaubt das Urheberrecht das
honorarfreie Zitieren von Notenbeispielen in wissenschaftlichen Kontexten, was
viele Musikalienverlage mit den Hinweis auf das Recht am Satzbild aber nicht
akzeptieren wollen (oder schlichtweg Bearbeitungsgebühren verlangt, für was
eigentlich?). Hier wären wohl grundsätzliche Rechtsprozesse zu führen, um
derartige Belange zu klären oder zunehmend die jeweiligen Komponisten um die
Wiedergabe ihrer Skizzen zu bitten. Denn diese erweisen sich meist als weitaus
kooperativer als die Kollegen in den Musikalienverlagen, die zweifellos auch ihr
Geld verdienen müssen. Das täten sie allerdings auch, wenn sie sich klarmachten,
dass jedes Buch über einen ihrer Verlagsautoren auch diesen bekannter werden
lässt. Und das die zeitgenössische Musik der verbalen Flankierung benötigt, wird
kaum jemand ernsthaft bezweifeln können. Die so in den Weg gelegten Steine
könnten auf Dauer zu den eigenen werden.
Recht schnell begann der Pfau-Verlag sich auch um die Invertriebnahme von
Festivalprogrammheften zu kümmern, weil viele Veranstalter mit einer späteren
Distribution ihrer Veröffentlichungen überfordert sind: zum einen, weil
Programmhefte eigentlich nicht für den postfestivalen Gebrauch produziert werden,
zum anderen, weil es den Veranstaltern auch an Personal fehlt, um jede einzelne
Anfrage nach dieser oder jener Broschüre erledigen zu können. Trotzdem sind
Programmhefte neuer Musik für die Arbeit mit derselben unentbehrlich. Nicht selten
liefern die dort platzierten Artikel die einzige verbale Auskunft über die betreffende
Stücke, enthalten mitunter herausragende Essays und geben auch nach
Jahrzehnten noch wichtige Hinweise über Konzertstrukturen.
Die Programmhefte vieler wichtiger Festivals neuer Musik im deutschsprachigen
Raum stehen durch den Distributionsservice des Pfau-Verlags auch denjenigen
Interessierten zur Verfügung, die das betreffende Festival nicht besuchen konnten
oder denen die eine oder andere Festivalpublikation fehlt. Zum Beispiel: Musik im
20./21. Jahrhundert des Saarländischen Rundfunks, Wittener Tage für Neue
Kammermusik, Donaueschinger Musiktage, Wien Modern, Grazer Musikprotokoll, Pro
Musica Nova von Radio Bremen, die Programmhefte des Karlsruher Ensemble 13,
die Veröffentlichungen der Inventionen in Berlin, Ultraschall-Festival von
DeutschlandRadio Berlin und Sender Freies Berlin, Musikfestspiele Saar.
Bei diesen Kooperationen zeichnet allein der jeweilige Veranstalter für die Publikation
verantwortlich, dies ist auch der Fall bei den Gemeinschaftsprojekten mit der
Hochschule des Saarlandes für Musik und Theater, dem Berliner Künstlerprogramm
des Deutschen Akademischen Austauschdiensts, dem Dresdner Zentrum für
zeitgenössische Musik (DZzM), den Gesellschaften für Neue Musik in Hannover
(HGNM), Köln (KGNM) und Berlin (BGNM) sowie bei der Schriftenreihe "Verdrängte
Musik", die der Förderverein zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und
ihrer Werke "musica reanimata" herausgibt, die ab Band 16 im Pfau-Verlag
erscheinen. Anders als bei den Festival-Programmheften, wo die Buchgestaltung
Layout-Kriterien der jeweiligen Institutionen entsprechen muss, ist ein Großteil der
letztgenannten Kooperationspublikationen eng mit den programmatischen
Konzeptionen des Verlags verknüpft. Die Vielfalt der neuen Musik spiegelt sich eben
auch in der Vielgesichtigkeit der Publikationen. Dabei durchgängig auf optische
Identität zu setzen, weil‘s Marktingexperten als dernier crie verkaufen, ist dem Pfau-
Verlag nicht wichtig. Essentiell ist allein die Neugierde am ästhetisch Neuen, die
Notwendigkeit derselben, die Lust an der zeitgenössischen Musik und ihren Texten.
Und dass ist ja zuallererst das Verdienst der Autoren, der Verlag bleibt ihr
mitstreitender Vermittler.